S o S — Sound of Stille

Wie groß die Reichweite der Kunstfreiheit ist und sein kann ist in der Verfassung theoretisch geregelt, praktische Anwendungsbeispiele gibt es dort natürlich keine. Dieser Gap zwischen Theorie und Praxis fällt auch der Kulturszene immer wieder auf die Füße und bleibt dort auch gerne mal länger liegen, wie bei der letzten documenta, deren Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen scheint. Trotz des hohen Werts der Kunstfreiheit wird die Politik niemals entbunden sein, gegen Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierung und alle anderen Arten von Menschenfeindlichkeit vorzugehen. Dieses Spannungsfeld baut sich aus vielen verschiedenen Stimmen, Meinungen und Ansichten auf. Die Absagen auf Verdacht von Ausstellungen, Lesungen und kulturellen Veranstaltungen steigen, auch Antisemitismus Vorwürfe ohne Substanz und Beweise werden zunehmend gegen Menschen gerichtet, die vermeintlich nicht zum weißen Deutschland gehören. Nicht nur linke jüdische und/oder israelische Menschen, arabische, muslimische und am radikalsten palästinensische Stimmen werden zunehmend vom Diskurs ausgeschlossen. Sondern auch eine Art vorauseilender Gehorsam führt zu unzähligen Absagen von Künstler*innen, die versuchen ihre Stimme für die Freiheit der Kunst und offene Gesprächskanäle in den polarisierten Zeiten zu nutzen. Buchpreise werden zurück gezogen, Symposien die Gesprächsräume eröffnen wollen, gar nicht erst eröffnet. Als rechts einzuordnende Verlage sind hingegen auf Buchmessen willkommen, andere Autor*innen sagen ihre Teilnahme aus Angst vor Rassismus und Diskriminierung ab. Weitere Künstler*innen treten aus Protest und Solidarität selbst zurück, weil sie Positionen von Stiftungen, kulturellen Einrichtungen, Museen nicht vertreten können und in Frage stellen.

Es geht ebenso darum mehr Meinungen als die eigene zu lassen zu können, sie sich anzuhören und gemeinsam in einen Diskurs treten zu können. „Man darf ja gar nichts mehr sagen!“, ist wohl der Inbegriff der Resignation, die Vereinfachung von einer Debattenkultur, die aus Bequemlichkeit und Unwissenheit verstummt. In Deutschland gilt weiterhin die Meinungsfreiheit, laut dem Grundgesetz, Artikel 5, ist das glasklar. Sind öffentliche Museen und kulturelle Einrichtungen nicht an das geltende Recht gebunden? Warum können unbequeme Stimmen, andere Meinungen oder Stimmen die nicht dem gängigen Narrativ entsprechen einfach abgesagt werden? Wer ist dafür die neutrale Kontrollinstanz? Ach ja richtig, das Bundesverfassungsgericht. Wer am lautesten brüllt beherrscht den Diskurs. Betroffenen wird zu selten zugehört, die Diversität der Meinungen wird zum Einheitsbrei verkocht. Die demokratische Teilhabe ist ein Grundrecht in Deutschland, die zivile Zerrissenheit gegenüber aktuellen Thematiken kaum noch auszuhalten. Es gibt nicht nur ein statisches richtig oder falsch, denn je diverser und postkolonialer Deutschland wird, desto stärker muss beispielsweise auch Sprache im Kontext gesehen werden. Ausstellungen werden natürlich auch zu Recht, aber eben auch zu Unrecht abgesagt.

Eine unberechtigt abgesagte Stimme sagt ihren Namen und dieses Audiofile wird jeweils als eine Collage aus weißen Papieren und den Farbtönen der Purpurgeraden gestaltet. Töne und Farben sind beides Wellenphänomene und physikalisch sehr ähnlich. Die Spektralfarben, die sichtbaren Farben, bewegen sich in einem Frequenzbereich zwischen circa 749 und 384 THz. Der Frequenzbereich der menschlichen Stimme zwischen etwa 85 Hz und 255 Hz für den Grundton, d.h. außerhalb des Frequenzbereichs der Spektralfarben. Mit den Obertönen kann die menschliche Stimme zwar bis zu 12 kHz erreichen, aber auch diese Wellenlänge kann das menschliche Auge nicht sehen. Im Allgemeinen variiert der Frequenzbereich nach Geschlecht, Alter und sons­tigen individuellen Eigenschaften. Werden auf der CIE-Normvalenztafel die zwei äußersten Punkte, das kurzwellige Violett mit dem langwelligen Rot, verbunden, entsteht die Purpurgerade. Die Farben auf der Purpurlinie können nicht wie die anderen Farbtöne durch monochromatisches Licht genau einer Wellenlänge zugeordnet werden. Es ist zwar nur eine Theorie, aber diese Farben sind dennoch wahrnehmbar. Weißes Licht enthält alle Farben des sichtbaren Lichtspektrums und visualisiert den unsichtbaren Teil der Stimmen. In Kombination mit jeweils einer Farbe der Purpurgeraden wird die individuelle Färbung der Stimmen dennoch wahrnehmbar. Diese Stimmen und Meinungen sind da, auch wenn sie leise gestellt wurden: Ein gemeinsamer Hilferuf der Kunstfreiheit.

Die Stille wird immer beklemmender, Meinungen und Haltungen verstummen. Menschenstimmen führen eigentlich durch diese Stadt, zeichnen neue öffentliche sowie sichere Räume. Auch die Sprache/n, die im öffentlichen Raum gelesen, gesprochen und gehört werden, leiten durch eine urbane Klanglandschaft und formen sie ab. Es wird leiser in Berlin, eine unangenehme urbane Stille breitet sich aus. 

S o S — Sound of Stille thematisiert die aktuelle und anhaltende Debatte der Kunst-/Meinungsfreiheit und die zu Unrecht (basierend auf dem Grundgesetz) abgesagten Ausstellungen, zurückgezogenen Preise, verschobenen Veranstaltungen, zurückgeholten Einreichungen etc. von diversen Künstler*innen und Kulturschaffenden. Ruhig und still als farbige abstrakte Collagen, als eine Technik der bildenden Kunst, reihen sich diese Stimmen leise ohne anzuecken harmonisch in eine Ausstellung, an eine ihrer Ausstellungswände, ein. 

Ein besonderes Dankeschön an die Künstler*innen für ihre Teilnahme sowie ihr Vertrauen!

Angelica Summer
Annemarie Jacir
Basma al-Sharif
Candice Breitz 
Center for Experimental Lectures
Eva Giannakopoulou
GGGOLDDD
Ghayath Almadhoun
Johanna Hedva
Jumana Manna
Raphaël Malik
Studio Art Grime Destroy (a.k.a Studio AGD)
Tinne Zenner

Ich bin eine weiße, deutsche Person und ich denke, es ist meine Aufgabe und Verantwortung den vielen zum Schweigen gebrachten und zurück getretenden Stimmen Raum zu geben. 

S o S — Sound of Silence

The extent of the scope of artistic freedom is and can be regulated in theory in the constitution, but of course there are no practical examples of its application. This gap between theory and practice is also a recurring problem in the cultural scene, where it can sometimes linger, as was the case with the last documenta, the reappraisal of which seems to be far from over. Despite the great value of artistic freedom, politicians will never be free to take action against racism, anti-Semitism, discrimination and all other forms of misanthropy. This field of tension is made up of many different voices, opinions and views. Cancellations of suspected exhibitions, readings and cultural events are on the rise, and accusations of anti-Semitism without substance or evidence are increasingly being directed at people who are supposedly not part of white Germany. Not only left-wing Jewish and/or Israeli people, Arab, Muslim and, most radically, Palestinian voices are increasingly excluded from the discourse. A kind of anticipatory obedience is also leading to countless cancellations by artists who are trying to use their voice for the freedom of art and open channels of conversation in these polarized times. Book prizes are withdrawn, symposia that aim to open up spaces for discussion are not even opened. Publishers that can be classified as right-wing, on the other hand, are welcome at book fairs, while other authors cancel their participation for fear of racism and discrimination. Other artists are withdrawing themselves in protest and solidarity because they are unable to represent the positions of foundations, cultural institutions and museums and are questioning them.

It’s also about being able to allow more opinions than your own, to listen to them and to enter into a discourse together. "You're not allowed to say anything anymore!" is probably the epitome of resignation, the simplification of a culture of debate that falls silent out of convenience and ignorance. In Germany, freedom of opinion still applies; according to the Basic Law, Article 5, this is crystal clear. Are public museums and cultural institutions not bound by the law? Why can uncomfortable voices, different opinions or voices that don't conform to the established narrative simply be shut down? Who is the neutral supervisory authority for this? Right, the Federal Constitutional Court. Whoever shouts the loudest controls the discourse. Those affected are rarely listened to, the diversity of opinions is boiled down to a uniform mash. Democratic participation is a fundamental right in Germany, and the civil discord over current issues is almost unbearable. There is not just a static right or wrong, because the more diverse and post-colonial Germany becomes, the more language, for example, has to be seen in context. Exhibitions are of course also rightly, but also wrongly, canceled.

An unjustifiably canceled voice says its name and this audio file is designed as a collage of white paper and the shades of the purple lines. Tones and colors are both wave phenomena and physically very similar. The spectral colors, the visible colors, move in a frequency range between approximately 749 and 384 THz. The frequency range of the human voice is about 85 Hz and 255 Hz for the fundamental tone, i.e. outside the frequency range of the spectral colors. Although the human voice can reach up to 12 kHz with the overtones, the human eye cannot see this wavelength either. In general, the frequency range varies according to gender, age and other individual characteristics. If the two outermost points on the CIE standard valence table, the short-wave violet and the long-wave red, are connected, the purple line is formed. The colors on the purple line cannot be assigned to exactly one wavelength by monochromatic light like the other hues. Although it is only a theory, these colors are still perceptible. White light contains all the colors of the visible light spectrum and visualizes the invisible part of the voices. In combination with one color of each purple line, the individual coloring of the voices is still perceptible. These voices and opinions are there, even if they have been turned down: A collective call for help for artistic freedom.

The silence becomes more and more oppressive, opinions and attitudes fall silent. Human voices are actually leading through this city, drawing new public and safe spaces. The language(s) that are read, spoken and heard in public spaces also guide us through an urban soundscape and shape it. It is getting quieter in Berlin, an uncomfortable urban silence is spreading. 

S o S — Sound of Silence addresses the current and ongoing debate on freedom of art/expression and the unjustly (based on the Basic Law) canceled exhibitions, withdrawn awards, postponed events, withdrawn submissions, etc. by various artists and cultural workers. Calm and quiet as abstract collages, as a technique of visual art, these voices  blend harmoniously into an exhibition, on one of its exhibition walls, without offending. 

A special thank you to the artists for their participation and their trust!

Angelica Summer
Annemarie Jacir
Basma al-Sharif
Candice Breitz 
Center for Experimental Lectures
Eva Giannakopoulou
GGGOLDDD
Ghayath Almadhoun
Johanna Hedva
Jumana Manna
Raphaël Malik
Studio Art Grime Destroy (a.k.a Studio AGD)
Tinne Zenner

I am a white German person and I think it is my task and responsibility to give space back to the many silenced and withdrawn voices.